Disruption: Der KI-Turbofür die Wissenschaft

04.06.2025 | Künstliche Intelligenz

Disruptive Technologien haben unser Leben verändert. Eine der größten technologischen Revolutionen der Menschheit steht aber erst in den Startlöchern: Künstliche Intelligenz. Sie bietet enormes Potenzial für die Forschung.

Der 3. April 1995 war für den jungen Amerikaner Jeff Bezos ein großer Tag: Zum allerersten Mal verkaufte sein neu gegründetes kleines Unternehmen ein Buch online. An den Erfolg seiner Idee glaubten nur wenige. Freunde und Verwandte mussten dem Jungunternehmer das Geld für sein Projekt borgen. Traditionelle Investoren konnten sich nicht vorstellen, dass Menschen per Computer und Internet einkaufen werden. Das tat man seit Jahrhunderten in Geschäften. Warum sollte das plötzlich anders werden?
Es wurde anders. Völlig anders: Dreißig Jahre später ist Start-up-Gründer Bezos mit einem Vermögen von 233,5 Milliarden US-Dollar der zweitreichste Mensch der Welt. Sein Unternehmen Amazon beschäftigt 1,56 Millionen Mitarbeiter und macht weltweit 613,05 Milliarden Euro Umsatz. Einkäufe in virtuellen Shops sind auf der ganzen Welt gang und gäbe. Viele junge Menschen können sich kaum noch vorstellen, für den Kauf von Bekleidung, Technik oder Büchern wie einst in ein reales Geschäft zu pilgern.
Der Online-Handel ist eines der markantesten Beispiel für disruptive Technologien. Gemeinsam mit Internet sowie digitalen Endgeräten wie Tablet und Smartphone haben diese Entwicklungen in den letzten drei Jahrzehnten das Leben fast der gesamten Menschheit sowohl im beruflichen als auch im privaten Umfeld tiefgreifend verändert – wie einst das Rad, der Buchdruck oder die Dampfmaschine. Und was in den letzten Jahrzehnten geschah, war erst der Anfang, meinen Technikoptimisten. Für die Zukunft stünden noch größere Umwälzungen ins Haus.

Wesentlicher Treiber dieser Veränderungen wird Künstliche Intelligenz sein. An diese disruptive Technologie und ihr Potential glauben im Gegensatz zu den Anfängen von Jeff Bezos und dem Internethandel heute allerdings weltweit Politik und Investoren. Auch in Österreich. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) etwa hat mit einer 150-Millionen-Euro-Förderung der gemeinnützigen Boehringer Ingelheim Stiftung das Institut für Künstliche Intelligenz in der Biomedizin AITHYRA gegründet.
„Die Idee dahinter ist KI mit Lebenswissenschaften zu verbinden“, sagt Georg Winter, seit April Biomedizin-Direktor des Institutes. Das große Ziel der Forschungsarbeiten sei es, Krankheiten besser zu verstehen, besser zu behandeln und besser zu diagnostizieren, erklärt der Wissenschaftler. Die Verbindung von KI und Biomedizin eröffne dazu ideale Möglichkeiten, ist Winter überzeugt: „Die in der medizinischen Forschung anfallenden Datenmengen sind heute in vielen Fällen zu umfangreich und zu komplex, um sie von Menschen zu erfassen“, sagt Winter.
KI kann das besser. Woran ein Team von Postdocs Monate oder Jahre arbeitet, erledigen ein Superrechner und KI in Stunden. Künstliche Intelligenz soll daher von Anfang an integrierter Teil der Forschungsprojekte von AITHYRA sein. „Das wird auch die Art der Experimente ändern“, so der neue Biomedizin-Direktor, ein international vielfach ausgezeichneter Wissenschaftler und ERC-Preisträger, der bisher als Gruppenleiter am CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin tätig war.

Freude über 150 Millionen Förderung für KI-unterstützte Forschung: ÖAW-Präsident Heinz Faßmann mit Christoph Boehringer, Vorsitzender der Boehringer Ingelheim Stiftung. (c) ÖAW/Natascha Unkart

Seine Ideen für die Zukunft der Krebsbehandlung klingen kühn. Nicht mehr an der Oberfläche der Zelle wollen die Forscher ansetzen, sondern die Therapie völlig neu denken, so Winter: „Wir wollen uns unter anderem damit beschäftigen, welche biologischen Schalter innerhalb einer kranken Zelle zu betätigen sind, damit sie wieder wie eine gesunde Zelle funktioniert.“ Ein weiteres Forschungsfeld soll die Verbindung zwischen Krebs und Immunologie sein, erzählt der Wissenschaftler: „Das Immunsystem hat viele Möglichkeiten, Zellen, die wir nicht brauchen, zu entfernen. Wir wollen wissen, weshalb dieser Mechanismus bei Krebs nicht funktioniert.“

Georg Winter: Mit Künstlicher Intelligenz Krankheiten besser verstehen, besser behandeln und besser diagnostizieren. (c) TU Wien

Georg Winter: Mit Künstlicher Intelligenz Krankheiten besser verstehen, besser behandeln und besser diagnostizieren. (c) TU Wien


Der personelle Aufbau des Institutes hat bereits begonnen. Die Ziele, die sich Winter für AITHYRA gesetzt hat, sind groß: „Wir wollen in Europa ein führendes Institut werden und international im Spitzenfeld mitspielen,“ erzählt er. Sehr eng wird AITHYRA mit der Universität Wien, der Technischen und der Medizinischen Universität Wien zusammenarbeiten. Auch auf internationaler Ebene bestehen beste Kontakte, nicht zuletzt dank des Gründungsdirektors Michael Bronstein. Der international anerkannte Experte im Bereich des Machine Learnings ist DeepMind Professor an der Universität Oxford. Zuvor hatte er eine Professur am Imperial College London sowie Gastprofessuren in Stanford, am MIT und in Harvard inne.
Dass Künstliche Intelligenz die Medizin einen riesigen Sprung vorwärts bringen wird, meint auch Georg Langs, der an der MedUni Wien in diesem Bereich forscht: „KI ermöglicht es bei uns zum Beispiel, bei der Krebstherapie verschiedenste diagnostische Daten vom Laborbefund bis zu Bilddaten zusammenzuführen und nach Mustern zu suchen, die uns zeigen, wie gut eine Behandlung funktioniert.“ Dabei geht es um sehr große Datenmengen. Allein Bilddaten enthalten tausende Pixelwerte, Veränderungen bei wenigen hundert Pixeln haben mitunter besonders hohe Aussagekraft.

Mit Hilfe von KI lassen sich umfangreiche Diagnosedaten in Sekunden verarbeiten und mit Werten eines Patienten im zeitlichen Ablauf, aber auch mit in Archiven gespeicherten Erfahrungswerten dieser Erkrankung verglichen werden, erzählt Langs. An der MedUni Wien laufen mehrere Forschungsprojekte zu diesem Thema und es gibt auch erste Anwendungen in der klinischen Praxis. „Das Detektieren etwa von Lungenknötchen und die Messung von Veränderungen mit KI-Unterstützung wird bereits praktiziert. Eine Herausforderung ist noch die Vorhersage“, sagt Langs.
Weitere Forschungen an der Med-Uni beschäftigen sich mit dem Einsatz von KI zur Analyse jener komplexen Zusammenhänge, die bei Krebserkrankungen auf molekularer Ebene wirken. „Unzählige Faktoren spielen hier eine Rolle. Ziel ist es, diese Mechanismen besser zu verstehen, um neue Angriffspunkte für Therapien zu finden“, erklärt Langs. Eine konkrete Studie läuft derzeit zu Gehirntumoren. Im Mittelpunkt steht dabei das Zentralnervensystem-Lymphom (ZNS-Lymphom). Die Wissenschaftler der MedUni Wien haben im Zuge dieses Projekts MR-Bilddaten und DNA-Informationen einer großen Patientengruppe zusammengeführt und analysiert. Daraus ergaben sich Hinweise auf neue und vielversprechende Zielgene für künftige Therapien.

Georg Langs: Künstliche Intelligenz liefert Werkzeuge, die die Sensitivität der Mediziner erhöht, die höhere Qualität und Sicherheit bei der Behandlung bringen. (c) MedUni Wien

Aufgrund der Bedeutung der KI für die medizinische Forschung schuf die MedUni Wien heuer das Comprehensive Center for Artificial Intelligence in Medicine. Dieses neue interdisziplinäre Forschungszentrum startet mit mehr als 15 Laboren, die KI in Bereichen von Radiologie, Dermatologie, bis zu Neurologie und Chirurgie weiterentwickeln. „Wir bringen auf der MedUni Kliniker und KI-Experten zusammen“, sagt Langs. Schritt für Schritt will man in beiden Fachbereichen neue Erkenntnisse gewinnen, um KI besser zum besseren Verständnis komplexer Krankheitsgeschehen zu nützen. Den Arzt wird KI auch in Zukunft nicht ersetzen, ist Langs überzeugt: „Künstliche Intelligenz liefert Werkzeuge, die die Sensitivität der Mediziner erhöht, die höhere Qualität und Sicherheit bei der Behandlung bringen. Am Ende werde es immer Ärzte sein, die entscheiden und die Verantwortung tragen.“

An den für die Nutzung von KI notwendigen Rechenkapazitäten soll es Forschenden der heimischen Universitäten und auch der Wirtschaft bald nicht fehlen. AI:AT (AI-Factory Austria), ein im Frühjahr gestartetes Projekt, soll eine hochmoderne Computing-Infrastruktur und Basisstrukturen für einen umfassenden KI-Hub schaffen. Das Konsortium des zukunftsorientierten Projektes wird von Advanced Computing Austria GmbH (ACA) und dem AIT Austrian Institute of Technology geleitet.
Weitere Partner sind führende österreichische Universitäten und eine Reihe renommierter wissenschaftlicher Institutionen wie das Institute of Science and Technology Austria (ISTA) oder die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Die Finanzierung dieses Projekt ist ebenfalls gesichert. Sie erfolgt zu 50 Prozent durch das European High Performance Computing (EuroHPC) Joint Undertaking Programm der EU sowie zu 50 Prozent aus einer nationalen österreichischen Co-Finanzierung.
Aufbauend auf dem Vienna Scientific Cluster (VSC) soll ein neuer KI-optimierter Supercomputer angeschafft werden, der Forschenden, Startups, Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung zur Verfügung steht. Damit können komplexe KI-Modelle effizient trainiert und auf verschiedene Anwendungsfelder übertragen werden. Der Rechner soll – wie für Ki nötig – enorme Verarbeitungskapazität bieten, erzählt Markus Stöhr, von ACA: „Nach dem Budgetrahmen wird es ein Hochleistungsrechner mit 650 bis 700 Grafikprozessoren, die Details hängen natürlich von der Entwicklung der Preise ab.“ Dazu wird es leistungsstarke Dateisysteme geben, die über ein schnelles Netzwerk mit dem Supercomputer verbunden werden.
Die Ausschreibung für den Rechner werde noch in diesem Jahr erfolgen, berichtet Stöhr. Mitte bis Ende 2026 sollten Lieferung und Installation erfolgen. Darüber hinaus stehen im Rahmen von AI:AT heimischen Anwendern neben den österreichischen Supercomputern VSC-4 und VSC-5 sowie dem Multi-Site-System MUSICA bei Bedarf – so der Plan der EU – auch LUMI, mit 380 Petaflops Europas schnellster Supercomputer und der fünftschnellste Rechner weltweit, sowie der Leonardo Pre-Exascale-Supercomputer mit 250 Petaflops zur Verfügung.

Für den Zugriff auf diese Super-Rechenleistung durch österreichische Kunden fungiert ACA in Partnerschaft mit dem AIT als zentrale Anlaufstelle. „Es wird schon in Kürze berechtigten Anwendern umfassende Betreuung für die Nutzung von Supercomputern zur Verfügung stehen“, erzählt Stöhr. Geplant sind Trainings- und Informationsangebote, die Nutzern zeigen sollen, wie diese Möglichkeiten für individuelle KI-Modelle optimal genutzt werden kann.
„Ziel ist es, dass unsere Kunden diese hohen Rechenleistungen mit einem niederschwelligen Zugang optimal für ihre Zwecke einsetzen können“, verspricht Stöhr. Außerdem soll es für User aus dem Bereich Start-ups und KMU in der Nähe der TU Wien auch Co-Workingspaces geben. „Das soll ein zentraler Anlaufpunkt werden, wo sich User mit Experten austauschen können und alle Voraussetzungen für die Nutzung der Superrechner vorfinden“, berichtet Stöhr.

Markus Stöhr: Ein KI-optimierter Hochleistungsrechner mit 650 bis 700 Grafikprozessoren für Österreichs Wissenschaft und Wirtschaft. (c) AITHYRA

Er ist überzeugt, dass Europa in der Nutzung von KI sowohl in der Forschung als auch in der Wirtschaft durchaus gute Chancen hat: „In den USA wird wesentlich mehr Geld investiert, aber wir haben in Europa sehr gute Ideen.“ Die Politik habe erkannt, welches Potential die Nutzung von KI biete und stelle auch die notwendigen Mittel dafür bereit. „AI:AT ist ein wichtiger Schritt, um eine Community aufzubauen und Ideen zu sammeln.“

Es gibt aber auch kritische Stimmen zu disruptiven Technologien wie Künstliche Intelligenz oder Supercomputing. Beispielsweise Reinhold Popp. Er ist Professor für humanwissenschaftliche Zukunfts- und Innovationsforschung an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien und leitet dort das Institute for Futures Research in Human Sciences: „Die Euphorie rund um KI kommt vor allem aus der Marketingabteilung großer Konzerne und aus der Ecke des Transhumanismus, wo man den Menschen als ziemlich übles Mängelwesen sieht, der ohne Technologie nichts könnte“, formuliert er kritisch.
Im Silicon Valley und an ähnlichen Orten säßen Fantasten, die alle Menschheitsprobleme bis zum Sieg über den Tod technisch lösen wollen, meint Popp. Und ihre Versprechungen seien oft leere Worte: „Haushaltsroboter werden seit zwei Jahrzehnten angekündigt und es gibt sie noch immer nicht.“ Der Grund sei, so Popp, dass selbst hinter scheinbar einfachen menschlichen Tätigkeiten eine Komplexität stecke, die Technikaffine unterschätzten.

Reinhold Popp: Es kann nicht sein, dass wir Maschinen nutzen, die Ergebnisse liefern, deren Wahrheitsgehalt wir nicht überprüfen können. (c) Popp

Künstliche Intelligenz sei, so Popp, dem Menschen einzig und allein in einem überlegen – dem Umgang mit gigantischem Datenmaterial. „Auf große Datenmengen rasch zuzugreifen, Muster zu bilden, das können Maschinen viel besser als der Mensch“, konzediert der Zukunftsforscher, aber das wisse man schon seit Erfindung der Rechenmaschine. Als problematisch sehe er, dass die damit verbundenen Vorgänge nur bedingt kontrollierbar seien. „Es kann nicht sein, dass wir Maschinen nutzen, die Ergebnisse liefern, deren Wahrheitsgehalt wir nicht überprüfen können.“ Außerdem weist er auf die Rechte an geistigem Eigentum hin, die bei KI auch unter den Tisch fallen.
Hauptkritikpunkt von Popp ist, dass die Technikfolgen kaum berücksichtigt werden: „Ingenieure denken nur darüber nach, was technisch möglich ist, aber nicht welche Auswirkungen ihre Entwicklungen für das menschliche Zusammenleben, für die Beziehungen der Menschen untereinander haben.” Bei der Entwicklung im Bereich KI sollte Europa trotz aller Bedenken dennoch dabei sein, meint der Zukunftsforscher: „Europa darf sich nicht auf andere Länder verlassen. Aber es müssen alle rechtlichen, ethischen und sozialen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden.“ Eine KI, die den Menschen dient – Europa könnte mit der Verbindung von Humanismus und Technologie den besseren Weg in Zukunft weisen, meint Popp.
Intelligente europäische KI sieht auch Andreas Hladky, Partner und Digitalisierungsexperte bei PwC Österreich als große Chance für die EU. Eine globale Umfrage seines Unternehmens in der Finanzlandschaft zeigte, das Künstliche Intelligenz und Tokenisierung die Investmentwelt in den nächsten Jahren in allen Bereichen völlig verändern werden – selbst in der Beratung.
Er sieht disruptive Technologien wie die KI als „Superchance“, die Menschen von stupiden Tätigkeiten zu befreien, um sie in Bereichen einzusetzen, wo großer Bedarf bestehe – etwa im Bildungs­system und Gesundheitssystem oder in der Pflege: „Wir können entscheiden, wo Menschen arbeiten und wo wir automatisieren.“ Natürlich müsse die Technologie sicher funktionieren und vor allem von Menschen kontrollierbar sein. Hladky verweist dazu auf den AI Act der Europäischen Union, der abhängig von den Gefahrenstufen von KI-Lösungen verbindliche Maßnahmen wie die Darstellung von Algorithmen vorschreibt: „Das ist durchaus gut aufgesetzt“, urteilt er.

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