Wissenschafter finden ein ‘Tempolimit’ für Innovation

06.08.2025 | Forschung

Eine Studie zeigt, dass Verbindungen zwischen einzelnen Innovationen zwar die Entwicklung insgesamt beschleunigen, aber auch das Risiko eines Systemzusammenbruchs deutlich erhöhen können – wobei sich der optimale Bereich für nachhaltige Innovation als überraschend schmal erweist.

Innovation ist eine zentrale Währung globaler Macht. Ob beim Wettlauf im Bereich der künstlichen Intelligenz, bei der Entwicklung grüner Energietechnologien oder neuer medizinischer Verfahren investieren Akteur:innen wie China, die Vereinigten Staaten und die Europäische Union Milliarden in Forschung und Entwicklung, um sich den nächsten Technologiesprung zu sichern – und damit wirtschaftliche und strategische Vorteile.

Eine neue Studie des Complexity Science Hub (CSH), veröffentlicht in Physical Review Research, zeigt jedoch, dass Innovationen nur unter bestimmten strukturellen Bedingungen nachhaltig sind. Erstens stellt die Studie fest, dass Innovation nur dann langfristig Bestand haben kann, wenn sie durch „Exnovation“ – den Verlust oder das Vergessen älterer Möglichkeiten – ausgeglichen wird.

„Zweitens“, so CSH-Forscher Eddie Lee, Hauptautor der Studie, „haben wir einen interessanten Trade-off entdeckt: Mehr Verbindungen zwischen Innovationen beschleunigen zwar die Entwicklung, aber sie erhöhen auch das Risiko eines totalen Systemzusammenbruchs.“

DER KARTENHAUS-EFFEKT

Lee und sein Kollege Ernesto Ortega-Díaz entwickelten ein Modell, das zeigt: Je stärker potenzielle Innovationen miteinander verknüpft sind – etwa wenn Fortschritte in einem Bereich wie dem maschinellen Lernen direkt Entwicklungen in anderen Feldern wie der Arzneimittelforschung oder Robotik vorantreiben –, desto „fachwerkartiger“ wird das System. In solchen Strukturen schreitet Innovation zwar schneller voran, das System wird jedoch zugleich fragiler: Die Vielzahl möglicher Richtungen erschwert es, Innovationsrichtungen aufrechtzuerhalten – was zum Zusammenbruch führen kann. „Der Sweet Spot für nachhaltige Innovation ist erstaunlich schmal“, sagt Lee.

„Das ist wie ein evolutionäres Tempolimit“, erklärt er weiter. „Wenn man Innovation in hochvernetzten Strukturen zu stark vorantreibt, stürzt das gesamte System ab. Es ist, als würde man ein Kartenhaus zu schnell bauen – je schneller man vorgeht, desto wahrscheinlicher fällt alles in sich zusammen.“

TECHNOLOGISCHE VS. BIOLOGISCHE EVOLUTION

Die Studie betrachtet auch grundlegende Unterschiede zwischen biologischer Evolution und technologischer Entwicklung im „Raum des Möglichen“ – also jenem Bereich aller möglichen Innovationen.

„Evolution kann man sich wie das Erklimmen eines Baumes vorstellen – jede Spezies kann nur einem spezifischen Pfad von Mutationen folgen, um dorthin zu gelangen, wo sie ist“, erklärt Lee. „Technologie hingegen gleicht eher einem Fachwerk oder Gerüst, bei dem viele Wege zur gleichen Innovation führen können. Man könnte sich theoretisch eine Welt vorstellen, in der Elektroautos vor Verbrennungsmotoren entstanden wären oder Quantencomputer vor dem Transistor entwickelt würden.“

Dieser strukturelle Unterschied, so fanden die Forschenden, hat tiefgreifende Konsequenzen für das Systemüberleben.

NEUES MODELL

Um das empfindliche Gleichgewicht zwischen Innovation (dem Entstehen neuer Möglichkeiten) und Exnovation (dem Verlust veralteter Möglichkeiten bzw. dem Aussterben von Arten) besser zu verstehen, entwickelten Lee und sein Kollege ein mathematisches Modell. Darin steht jeder Knotenpunkt für eine potenzielle Innovation innerhalb des „Raums des Möglichen“. Akteur:innen – wie Unternehmen oder Spezies – bewegen sich durch diesen Raum, entdecken Neues, sterben aus oder beeinflussen einander. Diese Dynamik wird als zwei gegensätzliche Fronten dargestellt: einer Innovationsfront, die in den „angrenzenden Raum des Möglichen“ vordringt, und einer Exnovationsfront, die veraltete Knoten entfernt.

Die Forschenden identifizierten drei mögliche Ausgänge für jedes System: unkontrolliertes Wachstum, vollständiger Kollaps oder ein empfindliches Gleichgewicht. Überraschenderweise stießen sie auch auf ein viertes Stadium – sogenannte “byzantinische” Phasen – wo Vielfalt auf hohem Niveau bestehen bleibt, aber Veränderung sich langsam entfaltet.

„Was uns am meisten erstaunte, war, wie klein der stabile Bereich wird, wenn man mehr Verbindungen zwischen Innovationen hinzufügt“, bemerkt Lee. “In stark vernetzten Systemen führt fast jeder Weg zum Kollaps. Es ist eine ernüchternde Erinnerung daran, dass mehr Vernetzung nicht immer besser ist.”

WEITREICHENDE IMPLIKATIONEN

Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass langlebige, diverse Systeme in Natur und Gesellschaft ihr Überleben möglicherweise gerade ihrer geringeren Anzahl von Verbindungen verdanken. Dieses „Weniger ist mehr“-Prinzip könnte für zahlreiche Bereiche – vom Ökosystemmanagement bis zur Innovationspolitik – von Bedeutung sein, etwa:

–– Technologie: Mit zunehmender Diversifizierung technologischer Systeme warnt die Studie vor wachsender Anfälligkeit. Zu schnelle Innovation könnte zu einer nicht nachhaltigen Entwicklung führen.

–– Wirtschaft: Das Modell bietet neue Einblicke in Schumpeters “schöpferische Zerstörung” – und zeigt, wie die Diversität von Ökonomien beeinflusst, ob Innovation nachhaltig ist oder nicht.

–– Biologie: Die Forschung legt nahe, dass die Fragmentierung und Wiedervernetzung von Ökosystemen für die Vielfalt des Lebens von Bedeutung ist. Eine geringere Durchmischung könnte die Resilienz erhöhen und dafür sorgen, dass die Populationsgrößen nicht auf ein kritisches Niveau sinken.

“Wir sind daran gewöhnt zu denken, dass mehr Verbindungen mehr Resilienz bedeuten”, sagt Ortega-Díaz. “Unsere Arbeit zeigt jedoch, dass das Gegenteil der Fall sein kann. Manchmal ist es gerade das Getrenntbleiben der Pfade, was Vielfalt gedeihen lässt.”

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