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Austria Innovativ: Wann waren Sie das letzte Mal in China?
Susanne Weigelin-Schwiedrzik:
Das letzte Mal war 2018. Ich war damals in Hongkong und habe mich nach Einschätzung der politischen Lage dazu entschlossen, nicht mehr nach China zu reisen. Ich fühle mich der österreichischen Öffentlichkeit gegenüber verpflichtet, eine realistische Einschätzung der politischen Situation in China zu geben und nicht das zu sagen, was China erwartet. Meine langjährige Erfahrung mit China, die Vielfalt meiner Gesprächspartner:innen und die Vielfalt der Medien erlauben einen guten Blick von außen auf China.
Vor etwa 30 Jahren haben europäische Unternehmen begonnen, ihre Produktion ganz oder teilweise nach China auszulagern, um Kostenvorteile zu lukrieren. Im Gegenzug bestand China auf einem intensiven Know-How- und Technologietransfer. Verfolgte China damals schon die Strategie, sich Wissen von europäischen Firmen anzueignen, um Europa irgendwann technologisch überholen zu können?
Seit 1978, seit dem Beschluss des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas zu Reform und Öffnung war klar, was die VR China zu erreichen versuchte. Das war auch ausländischen Investoren klar, die seit dem Eintritt in die WTO im Jahr 2001 verstärkt mit China kooperierten. Bei Vorträgen, die ich damals gehalten habe, habe ich immer wieder auf Chinas Strategie hingewiesen. Als sich BASF unter dem damaligen CEO Jürgen Strube entschied, nach China zu gehen, meinte er nach meinen Hinweisen, sein Unternehmen müsse dort hin, selbst wenn die Bedingungen noch so schwierig und riskant seien.
Waren europäische Unternehmen zu naiv?
Das würde ich nicht sagen. Denn wenn Strube meinte, sein Unternehmen müsse einfach in China präsent sein, wusste er auch über das Risiko Bescheid. Nach den Krisen der 70er Jahre, die Europa und auch die USA betrafen, war die Perspektive, in China investieren zu können, eine willkommene Option. Die europäischen international agierenden Unternehmen setzten ihre Hoffnungen auf eine Marktöffnung Chinas und waren der Ansicht, dass sie ohne den chinesischen Markt im Wettbewerb mit anderen internationalen Unternehmen nicht bestehen könnten.
China hat übrigens nie einen Zweifel daran gelassen, dass es mit ausländischem Know-How technologisch und wirtschaftlich aufholen möchte.
Gibt es grundsätzliche Unterschiede in den Forschungsstrategien zwischen Europa und China?
Der erste grundlegende Unterschied besteht in der Tatsache, dass China erfolgreiche Technologien, die sich bereits durchgesetzt haben, weiterentwickeln möchte. Das ist die wichtigste Strategie Chinas. Während Europa und die USA viel Geld in die Grundlagenforschung investieren, um später daraus die anwendungsorientierte Forschung voranzutreiben, spart sich China die damit verbundene Unsicherheit und auch die hohen Investitionen.
Wann hat China seine Grenzen für Forschung geöffnet?
Im Jahr 1975, als ich nach China ging, durften Chinesen und Chinesinnen nur in Ausnahmefällen ins Ausland fahren; es war ähnlich wie in der DDR. Allerdings beschloss China im Jahr 1978 eine Strategie der Öffnung. Somit musste China Ergebnisse der Grundlagenforschung nicht kaufen, sondern sie kamen durch die jungen Wissenschaftler:innen ins Land, die nach ihrer Ausbildung nach China zurückkehrten. Dadurch kam China sehr rasch auf den Stand der Technik, der im Ausland bereits erreicht war. Dieser Austausch war für China mit einem Braindrain verbunden, aber er war trotzdem von Vorteil, und zwar für beide Seiten: Ich kenne Labors in den USA, in denen nur chinesische Doktoranden gearbeitet haben.
Die aktuellen Beziehungen zwischen den USA und China sind schwerst belastet …
Seit 2012, als Xi Jinping an die Macht kam, wurden Programme entwickelt, um im Ausland lebende Forschende wieder nach China zurückzuholen und sie großzügig mit Infrastruktur und Geld auszustatten. Dieses „Thousand Talents Programme“ führte dazu, dass die europäische Forschungslandschaft mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass Kolleg:innen, mit denen jahrelang sehr gut zusammengearbeitet wurde, plötzlich wieder nach China zurückgingen. Das führte in den USA und Europa zu einem Klima, das ausgeprägt chinakritisch war. In den USA ist die Angelegenheit komplex; viele chinesische Forschende, die teilweise mit der amerikanischen Staatsbürgerschaft jahrzehntelang in den USA gelebt hatten, wurden plötzlich der Spionage verdächtigt. Niemand unter den Beschuldigten in den USA wurden wegen irgendwelcher Spionagetätigkeiten verurteilt, sondern, wenn überhaupt, wegen Finanzvergehen wie Steuerhinterziehungen.
Wie intensiv ist die Kooperation zwischen der Universität Wien und China?
In Bereichen wie Naturwissenschaften und Informatik vernehme ich von der Kollegenschaft, dass aufgrund des mitunter sehr hohen Niveaus der chinesischen Forschung die Beendigung der Zusammenarbeit für Österreich ein Problem wäre. Somit könnte die Universität in eine Situation geraten, in der China vor Jahrzehnten war, als es sich abgekapselt hatte und an den wissenschaftlichen und technologischen Erkenntnissen nicht teilhaben konnte. Die Universität Wien hat in dieser Frage aber ohnehin eine vorsichtige Politik eingeschlagen.
China forscht sehr intensiv an der künstlichen Intelligenz; Stichwort Deep Seek.
Während des letzten China-Besuches von Frau v. d. Leyen wurde das Interesse an einer intensiven Zusammenarbeit mit Europa seitens Chinas an sie herangetragen, um ein weltweites Regularium für KI auszuformulieren. In der Anfangsphase der Entwicklung war KI in China sehr wenig reguliert. China ist bekannt als ein Land, das sowohl von Unternehmen, Institutionen als auch von den Bürger:innen in großem Umfang Daten sammelt, was eigentlich die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung von künstlicher Intelligenz ist. In dieser Hinsicht ist China uns auf eine gespenstische Art voraus. Ein konkretes Beispiel: Heute gibt es in China praktisch keine Verwendung von Bargeld mehr; die chinesische Regierung weiß über alle Einkaufsgewohnheiten und Geldflüsse der Bevölkerung genau Bescheid. Die Daten, die über das Bezahlen mit Handys gesammelt werden, sind bei der Größe der Bevölkerung äußerst zahlreich und vielfältig. Das würden wir in Europa ablehnen, weil wir nicht derart vom Staat überwacht werden wollen. Viele Chines:innen finden das Bezahlen mit dem Smartphone einfach praktisch.
Welche weiteren Aspekte begünstigen den technologischen Fortschritt Chinas?
In China gibt es ein großes Heer an naturwissenschaftlich und technisch ausgebildeten und gut qualifizierten Personen. Dadurch verfügt China über derart viel Manpower, dass gleichzeitig viele Ideen und mehrere Forschungsstränge zur Lösung eines Problems vorangetrieben werden können. Ebenso ist die chinesische Bevölkerung sehr technologieaffin. Alle technischen Lösungen werden sofort ausprobiert, und die Konsumenten nehmen technische Neuheiten begeistert an. Hinzu kommt eine Art „Techno-Nationalismus“, der darauf abzielt, alles zu tun, um technologisch an die Weltspitze zu rücken und sich dadurch als Weltmacht behaupten zu können.

“In China herrscht eine Art „Techno-Nationalismus“,
der darauf abzielt, alles zu tun, um technologisch an die Weltspitze zu rücken und sich dadurch als Weltmacht behaupten zu können.”
Welche Anstrengungen unternimmt China im Bereich der Energiewende?
China möchte weg von fossilen Rohstoffen und zwar deshalb, weil es selbst keine fossilen Rohstoffe hat. Über 80 % des Öl- und Gasbedarfs kommt aus dem Nahen Osten, besonders aus dem Iran, der bekanntlich in einer prekären geopolitischen Lage ist. Diese Abhängigkeit ist hoch riskant, denn Öl und Gas müssen durch die Straße von Hormus oder die Straße von Malakka zwischen der Malaiischen Halbinsel und der Insel Sumatra gelangen – letztere ist mit 38 Kilometern Breite ein Nadelöhr. Beide Transportwege sind aus geopolitischer Sicht – etwa einer möglichen kriegerischen Auseinandersetzung mit den USA – als sichere Transportwege langfristig auszuschließen. So versucht China derzeit, den Öl- und Gasbedarf z. B. aus Zentralasien zu decken, um auch im Bereich Energie autark zu sein.
China setzt Öl, Gas, aber auch Kohle, Sonne, Wasser und Wind, ebenso Atomkraft – China hat große Uranvorkommen – gezielt dort ein, wo der Wirkungsgrad optimal ist. China hat keinen romantischen Blick auf die Energiewende, sondern einen zutiefst pragmatischen. Der Ausbau der erneuerbaren Energie soll den Import von Öl und Gas reduzieren, wobei die fossilen Brennstoffe nach wie vor dort eingesetzt werden, wo sie unverzichtbar sind.
Welche Rolle muss Europa in dieser unsicheren Zeit finden?
Zuvor möchte ich sagen, dass die Entwicklung Chinas seit dem 19. Jahrhundert nie geradlinig war. Die chinesische Gesellschaft balanciert auf einem. Die von der chinesischen Regierung gewünschte lineare Weiterentwicklung könnte durch gravierende politische Auseinandersetzungen beendet werden. Wir übersehen zumeist, dass es innerhalb der chinesischen kommunistischen Partei enorme Spannungen und Auffassungsunterschiede gibt, etwa, ob man den Weg der engen Zusammenarbeit mit Russland weitergehen oder sich stärker den USA zuwenden soll; ebenso welches Vorgehen gegenüber Taiwan zu wählen ist.
Was würden Sie Europa raten?
Europa wird im Augenblick von drei Ländern bestimmt, nämlich den USA, Russland und China, wobei alle drei mit erheblichen ökonomischen Problemen kämpfen. Ihre Lust, die Geschicke der Welt zu bestimmen, hat Grenzen.
Aber was wir in Europa lernen müssen, ist, von anderen zu lernen. Chinas Bevölkerung lernt permanent. Das beginnt im Kindergarten und reicht natürlich bis an die Universität. China lernt aber auch in der Freizeit, bei Reisen ins Ausland und hat eine kollektive Haltung entwickelt, die in der Aufnahme neuen Wissens, neuer Anwendungen und neuer Technologien ihren Ausdruck findet. Diese Bereitschaft, immer wieder zu lernen, sehe ich in Europa nicht.