Forschung
Foto: Verena Ahne
CSH-Präsident Stefan Thurner: „Das Gute an der Komplexitätsforschung ist: Wir brauchen keine teuren Geräte, um Exzellenz zu produzieren. Wir brauchen nur ein paar Computer, gute Datensätze und die besten Köpfe.“
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Interview

„Complexity science is beyond AI“

In der Corona-Krise war die Bedeutung der Komplexitätsforschung für viele Menschen zum ersten Mal richtig begreifbar geworden, Stichwort: Kapazität von Spitalsbetten. Stefan Thurner, Präsident des Complexity Science Hub Vienna (CSH), hätte sich einen anderen Anlass gewünscht, um den CSH ins Rampenlicht zu rücken. Was nichts daran ändert, dass der Complexity Science Hub künftig wohl eine viel stärkere Rolle auch in der öffentlichen Wahrnehmung spielen wird.

von: Harald Hornacek

Austria Innovativ: In den Vorhaben der neuen Regierung spielt auch das Thema Komplexitätsforschung eine prominente Rolle. Ist die complexity science damit im Mainstream angekommen?

Stefan Thurner: In der breiten Öffentlichkeit sehe ich sie noch nicht. Aber die Regierung hat offensichtlich verstanden, wie wichtig dieses Wissenschaftsfeld für die Zukunft ist. Hier gibt es Potenzial für echte, die ganz große Innovation, die sich alle wünschen. Komplexitätsforschung ist ja mehr als „nur“ Künstliche Intelligenz, mehr als Big Data und Machine Learning. Complexitiy science is beyond AI… 

AI: Was meinen Sie damit?

ST: Künstliche Intelligenz ist sicher ein tolles Tool, um aus dem Rohstoff Daten ein veredeltes Produkt zu machen, und es gibt schon eine Vielzahl von Anwendungen mit K.I., die die Leute begeistert. Aber Komplexitätsforschung fängt dort erst an. Wir bemühen uns darum, die komplexen Systeme, die überall um uns sind, von Grund auf zu verstehen. Sind die komplexen Systeme Wirtschaft, Finanzmärkte, Gesundheitsversorgung resilient, können wir uns also auch in Zeiten von Krisen und Störungen darauf verlassen, dass sie funktionieren? Oder sind sie Kollaps-anfällig? Wo liegen die Stärken, wo die Schwachstellen eines bestimmten Systems?

Erst wenn wir die Systeme wirklich verstehen, können wir gezielt darangehen, sie so umzubauen, dass sie widerstandsfähiger werden, dass sie besser funktionieren, kostengünstiger sind usw.

Und dieses tiefergehende Verständnis brauchen wir mehr denn je. Die Menschheit steht vor herausfordernden Zeiten. Wir müssen in den nächsten Jahrzehnten mit riesigen Umwälzungen umgehen: Digitalisierung, demographischen Veränderungen, Erhalt von Demokratie und humanistischen Werten, Migration, Klima- und Ökosystem-Krisen… und das alles passiert gleichzeitig! Die daraus resultierenden möglichen Verwerfungen stellen Gesellschaften auf den Prüfstand.

Das ist übrigens typisch für komplexe Systeme: Solange die Dinge im Großen und Ganzen reibungslos laufen, das Klima stabil ist, die Wirtschaft schnurrt, Arbeitsplätze, Gesundheitsversorgung, Nahrungsmittel usw. ausreichend da sind, kann sich die Gesellschaft ausgiebig mit Einzelproblemen befassen. In stabilen Zeiten können wir Dinge ausprobieren, und wenn wir sehen, dass sie nicht gut funktionieren, wieder verwerfen, ohne das Gesamtsystem zu gefährden. Aber wenn sich komplexe Systeme überall Kipppunkten nähern, sollten wir sehr genau wissen, welche Maßnahmen sinnvoll sind und welche wir gleich bleiben lassen können. Sonst verlieren wir kostbare Zeit und Ressourcen; und irgendwann fliegt uns das Ganze um die Ohren. 

AI: Lässt sich die Komplexitätsforschung auch praktisch anwenden, vielleicht sogar kommerziell nutzen?

ST: Ja sicher! Das ist so spannend an der Complexity Science. Vereinfacht gesagt arbeiten wir an den Methoden für ein grundlegendes Verständnis komplexer Systeme. Und wenn wir die einmal haben, können wir sie auf die unterschiedlichsten Systeme anwenden.

Oft wundern sich die Leute ja über die Vielzahl an Themen, zu denen wir publizieren, zuletzt etwa zu Osteoporose, Fake News, gesellschaftlichem Kollaps, Ärztemangel, getürkten Wahlen, Emotionen in sozialen Netzwerken, der Gesundheit von Kühen, Entstehung von Musikstilen… Wo ist da der rote Faden? Der rote Faden ist: Es sind alles komplexe Systeme! Entsprechend breit sind deshalb auch die Anwendungsmöglichkeiten unserer Forschung.

Ich traue mich zu sagen: Es gibt nicht viele wissenschaftliche Institutionen in der Welt, die auf diesem Niveau fundamental Neues zum Verständnis komplexer Systeme beitragen können, und mit den meisten anderen ist der Hub eng verbunden. Ich traue mich auch zu sagen: Der CSH spielt hier in der obersten Liga mit.

AI: Können Sie ein paar Beispiele für so ein fundamental neues Verständnis nennen?

ST: Nehmen wir den Wirtschaftsstandort Österreich. Wirtschaftsleistung wird meist über Einzelparameter definiert, wie Arbeitslosenquote, Wirtschaftswachstum, BIP, Export-Importquoten … Aber jedes Unternehmen ist verwoben mit anderen Betrieben und Branchen. Es ist Teil eines nationalen und internationalen Handelsnetzwerks. Uns interessiert die Systemrelevanz der einzelnen Knoten im Netzwerk, also der einzelnen Betriebe. Wie wichtig ist ein Betrieb für das Funktionieren des ganzen Systems? Was passiert, wenn ein Akteur ausfällt? Welche Schockwellen löst das auf andere Akteure oder Partner aus – oder passiert gar nichts?

Mit unserem Modell der österreichischen Wirtschaft möchten wir die systemische Bedeutung der einzelnen Sektoren oder Unternehmen für den Wirtschaftsstandort bestimmen, den „Wert“ jeder Firma für das Wirtschaftsökosystem einer Region oder eines Landes. Wir bekommen Maßzahlen, die als Grundlage für Entscheidungen dienen könnte, etwa über Regionalförderungen oder Kredite. 

AI: Gibt es schon erste Erkenntnisse dazu?

ST: Erfolgreiche Unternehmen entwickeln sich nicht in einem Vakuum – sie benötigen Ressourcen, Zulieferer, Kunden, strategische Partner und mehr. Wir haben berechnet, dass österreichische Betriebe in Regionen mit funktionierenden wirtschaftlichen Ökosystemen Steigerungen in der Gesamtleistung pro Mitarbeiter*in um jährlich bis zu vier Prozent aufweisen. In Regionen mit hoher Abhängigkeit von anderen Sektoren hingegen schrumpfen die Unternehmen um bis zu acht Prozent pro Jahr.

Zu verstehen, welche Faktoren die verschiedenen Systeme wie beeinflussen, ist für unsere Zukunft enorm wichtig.

An anderes Beispiel ist das Gesundheitswesen. Wir konnten zeigen, dass es in Österreich keinen echten Ärzt*innenmangel gibt. Was es gibt, ist ein Verteilungsproblem. Das hat vielfältige Ursachen, etwa Interessen- und Standespolitik, Positionen gesundheitspolitischer Akteure, landesspezifische Themen – aber auch die Lebensplanung junger Menschen. Weil wir das wissen, können wir sagen: Wir müssen uns nicht darum kümmern, mehr Mediziner*innen auszubilden, sondern sollten überlegen, wie wir eine junge Ärztin für eine Kassen-Praxis in einem Wiener Brennpunktbezirk oder einer kleinen ländlichen Gemeinde interessieren.

Diese Art faktenbasiertes Wissen, das wir auf Basis großer Datensätze gewinnen, sollte die Grundlage aller Entscheidungen sein. Der Hub könnte hier maßgeblich zu einer „evidence-based policy“ beitragen.

AI: Warum „könnte“?

ST: Wir haben jetzt rund 30 Leute am Hub, junge, hoch talentierte Wissenschaftler*innen, die großartige Arbeit leisten. Aber 30 sind zu wenig, um die vielen Bereiche, in denen wir bereits exzellentes Wissen erarbeitet haben, weiter zu entwickeln. Auch für die internationale Sichtbarkeit braucht es mehr Leute. Um zu einem Pull-Faktor für die österreichische Wissenschaft zu werden, brauchen wir eine kritische Masse von zehn starken Gruppen oder 100 Leuten. Das ist unsere Vision: binnen der nächsten Jahre auf 100 zu wachsen.

Das ist übrigens nicht nur für den Hub wichtig. Alle reden davon, dass Österreich gut ausgebildete Leute fehlen, die aus großen Datensätzen Informationen und verwertbares Wissen generieren können. Wir hören auch ständig, dass Österreich zum Innovation leader werden soll. Zu beidem kann der CSH beitragen. Wir sind ja nicht nur eine wichtige Forschungsstätte, sondern auch eine Ausbildungsstätte für genau die Leute, die die Wirtschaft so händeringend sucht. Aber um die entsprechenden Strukturen auszubauen und für die weltbesten der Besten interessant zu sein, brauchen wir Planungssicherheit. Wir wünschen uns deshalb eine Basisfinanzierung.

Das Gute an der Komplexitätsforschung ist: Wir brauchen keine teuren Geräte, um Exzellenz zu produzieren. Wir brauchen nur ein paar Computer, gute Datensätze und die besten Köpfe.

Ach ja – wir brauchen dringend auch mehr Platz. Der Hub platzt bald aus allen Nähten.

AI: Ihr derzeitiger Standort ist mitten in der Stadt.

ST: Die Josefstädter Straße im 8. Bezirk ist ideal gelegen als Schnittpunkt mehrerer Universitäten und Einrichtungen, die wir für unsere Forschungen als Partner benötigen oder denen Partner wir sind. Die Wege sind kurz, öffentlich oder per Fahrrad gut erreichbar – im wahrsten Sinn des Wortes sind wir dort ein „Hub“! Wir haben uns deshalb ein tolles architektonisches Konzept für das Haus überlegt: Wir wollen die Dachböden energieneutral, nachhaltig und sehr modern, hell, freundlich ausbauen. Wir hätten mit diesem Ausbau genug Platz für 100 Leute. Im Moment suchen wir gerade Sponsoren, die uns diesen Ausbau ermöglichen.


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