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Foto: Udo Titz
Der vielfach ausgezeichnete Genetiker Markus Hengstschläger ist Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der MedUniWien, Berater und Bestsellerautor und leitet den Thinktank Academia Superior.
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INTERVIEW

„Wir leben in keiner Wissensgesellschaft“

Markus Hengstschläger, Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der MedUniWien, über sein neues Buch, schlecht geförderte Talente, die nötige Sicherheit, um Neues zu wagen, sowie die immer schnelleren Technologieentwicklungen samt ihren ethischen Fragen.

Austria Innovativ: In ihrem jüngsten Werk „Die Lösungsbegabung“ geht es besonders um die Frage, wie der Mensch abseits der geerbten Fähigkeiten seines eigenen Glückes Schmied werden kann. Welche Rolle spielen die Gene, welche das Umfeld?

Markus Hengstschläger: Gene sind nur unser Werkzeug, aber die Nuss knacken wir selbst. Der Mensch ist das Produkt der Wechselwirkung von Genetik und Umwelt. Und dann kommt noch die Epigenetik als Brücke zwischen sozialen und biologischen Effekten dazu, auch wenn es hier noch sehr vieles zu erforschen gilt.

AI: Mittels Genoptimierung wollen einige den besseren Menschen schaffen.

MH: Die Zusammenführung von Genbzw. Biotechnologie und Informationstechnologie mit künstlicher Intelligenz soll eine Reise in eine neue Welt ermöglichen. Die Utopie, dass sehr bald über Genoptimierung ein unsterblicher, immer glücklicher und maximal leistungsfähiger Homo deus entsteht, der Lösungen für alle Probleme der Menschheit aus dem Ärmel schüttelt, entbehrt zum aktuellen Stand der Forschung jeglicher ernsthaften wissenschaftlichen Grundlage. Und das ganz unabhängig von all den ethischen Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit Genoptimierung ergeben.

AI: Die „Lösungsbegabung“ gehört laut ihrem Buch zur Grundausstattung des Menschen. Oft mangele es aber an entsprechenden Rahmenbedingungen, um wirklich Handlungen zu setzen. Was hindert uns?

MH: Der enorme aktuelle Wandel und die permanent zunehmende Beschleunigung scheinen dazu zu führen, dass laufend immer mehr vorhersehbare aber eben auch unvorhersehbare Probleme und Fragestellungen zu lösen sind. Damit es zu keiner Überforderung kommt und sich der Mensch nicht in eine Mitmachkrise verabschiedet, muss die Lösungsbegabung von klein auf gefördert und dann ein Leben lang aktiv gehalten werden. Begabungen sind genetisch mitbestimmte und frühkindlich mitgeprägte Potenziale – ihre Umsetzung in Leistungen gelingt aber nur durch Wissenserwerb und Üben.

AI: Was ist konkret erforderlich, um die in uns innewohnende Lösungsbegabung zu entfalten?

MH: Es beginnt schon damit, dass man Kindern den Lösungsprozess nicht laufend abnehmen darf. Wann immer möglich, muss man Kindern die Chance geben, selbst die Lösung für ein Problem finden zu können. Das coole Gefühl, selbst Ideen entwickeln zu können, prägt den Menschen für sein Leben, trägt zur Persönlichkeitsentfaltung bei und motiviert, sich später auch bei kollektiven Lösungsprozessen zu beteiligen. Es bedarf der richtigen Mischung gerichteter und ungerichteter Bildung bzw. Ausbildung. Neben dem unverzichtbaren Faktenwissen müssen wir einen stärkeren Fokus auf z. B. kritisches und kreatives Denken, Kommunikation, Teamfähigkeit, emotionale und soziale Intelligenz, Ethik, Resilienz und vieles mehr legen. Es gibt viele verschiedene Strategien, wie man bei sich oder bei seinen Mitarbeiter*innen die Lösungsbegabung aktiv halten kann.

AI: Wie lässt sich hiermit Innovation und Kreativität fördern?

MH: Wir müssen zum Beispiel das Bilden von Schnittstellen zwischen Menschen verschiedener Disziplinen oder Kulturen ermöglichen und zugleich auch individuell suchen. An solchen Schnittstellen entstehen kreative Ideen und neue Lösungen wahrscheinlicher. Und man muss durch die notwendige Beweglichkeit und Wachsamkeit, ja oft sogar auch Beharrlichkeit, die optimalen Voraussetzungen für Serendipität, also das zufällige Finden neuer Lösungen, schaffen. Im Buch beschreibe ich viele solcher Konzepte.

AI: Aktuell ist unsere Gesellschaft von großen Krisen – Stichwort Corona, Klima oder Biodiversität – gefordert.

MH: Klimawandel, Terrorismus, Rassismus, Populismus, die Flüchtlingskrise und letztendlich auch die COVID-19- Pandemie zeigen: die Fähigkeit, Probleme lösen zu können, ist wichtiger denn je. Bei diesen großen Themen ist vor allem die kollektive Lösungsbegabung der Menschheit gefordert. Und man muss bereit sein, permanent von der gerade Gestalt annehmenden Zukunft zu lernen. Lösungsbegabung, das Entwickeln von innovativen Ansätzen, setzt außerdem ein höchstmögliches Ausmaß an individueller Freiheit voraus. Wenn man sie mehr beschneidet als unbedingt notwendig, damit sie funktioniert und andere nicht zu Schaden kommen, hemmt man die Entfaltung von Lösungsbegabung. Nach Kant bedeutet Freiheit keinesfalls tun zu können was man will, sondern es handelt sich um Autonomie, in der man sich an die Gesetze hält, die man sich selbst geschaffen hat: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ Und die Freiheit von etwas muss mit Inhalten gefüllt werden, indem man etwas tut und seinen Beitrag leistet. Die Förderung und Entfaltung von Lösungsbegabung ist eine unverzichtbare Komponente, wenn es um das Entwickeln kreativer neuer Konzepte für die Zukunft geht und dafür bedarf es einer Gegenwartskompetenz mit neuen Ansätzen im Talentmanagement, in der Bildung, im Leadership, in der Politik und in unserer Gesellschaft.

AI: Wie kann man mit Unvorhersehbarem umgehen?

MH: Eine Pandemie ist ein gutes Beispiel für die Wechselwirkung zwischen vorhersehbareren und unvorhersehbareren Zukunftsanteilen. Pandemien sind keine schwarzen Schwäne im Sinne von Nassim Taleb, weil ja vorhersehbar ist, dass immer wieder welche kommen werden. Aber welcher Erreger wann und in welchem Ausmaß die Menschheit heimsuchen werden, ist unvorhersehbar. Die einen sagen, die Zukunft sei viel transparenter und vorsehbarer geworden aufgrund von digitaler Transformation, Big Data und künstlicher Intelligenz. Andere sprechen von der VUCA-Welt, in der die Vorhersehbarkeit laufend abzunehmen scheint. Für mich hat sich folglich die Frage gestellt, welche die wichtigste Begabung ist, die man jetzt fördern kann, soll und muss, um sich für Vorhersehbares und Unvorhersehbares zu rüsten und dadurch die Zukunft auch mitzugestalten und Neues zu schaffen.

AI: Viele Menschen sind in Krisen von Angst gelähmt oder vom System frustriert. Wie kann man sie motivieren?

MH: Es braucht selbstverständlich Mut, um alte Wege zu verlassen und neue zu gehen. Aber auch Angst ist ein hochwichtiges Gefühl, ohne das der Homo sapiens bis heute nicht überlebt hätte. Angst kann für Fokussierung, Konzentration und das Aufrechterhalten von Abwägungsprozessen verantwortlich sein. Mut ganz ohne Abwägung kann in Dummheit münden. Mut aus Sicherheit und das richtige Verhältnis zwischen Mut und Angst ist entscheidend.

AI: Die Menschheit ist aktuell durch rasend schnelle wissenschaftliche und technologische Entwicklungen geprägt. Überfordern wir uns durch diese rasante Entwicklung selbst und verlieren den Überblick auf das Ganze?

MH: Andere Autoren sprechen davon, dass wir immer mehr Informationsgiganten werden, aber zu Wissenszwergen verkommen und dass wir in Informationen ertrinken, aber gleichzeitig an Wissenshunger zugrunde gehen. Auch ich denke, dass wir aktuell vielleicht gar nicht in einer Wissensgesellschaft, sondern vielmehr in einer Datengesellschaft leben. Daten müssen in einen Kontext gesetzt und interpretiert werden, damit Informationen daraus entstehen. Und Wissen entsteht erst, wenn verschiedene Informationen durch Denken zu einem Bild zusammengefügt und mit Erfahrungen vernetzt werden. Um zu neuen Lösungen kommen zu können, braucht es Wissen und eine aktive Lösungsbegabung.

AI: Wie sieht dies in ihrem Forschungsbereich aus?

MH: In der Präzisionsmedizin werden in Zukunft immer mehr medizinische Daten vor allem auch unter Berücksichtigung von Genom-Daten sowohl für die Diagnostik als auch für die Entwicklung und die personalisierte Anwendung neuer innovativer Therapien zur Anwendung kommen. Hier wird die künstliche Intelligenz zukünftig von großer Bedeutung sein.

AI: Funktionieren die Schnittstellen zwischen den Disziplinen?

MH: Manchmal besser und manchmal ist noch Luft nach oben. Gerade in Zeiten der digitalen Revolution muss man sich zum Beispiel die Frage stellen, was die Universaltechnologie künstliche Intelligenz zum Wohle der Menschheit hervorzubringen vermag, wenn sie nicht in Kombination mit dem Denken und Forschen aus den Geistes-, Sozialund Kulturwissenschaften zur Anwendung kommt.

AI: Machen die Trennung der ungerichteten Grundlagenforschung und der mit einem klaren Verwertungsziel gerichtete angewandte Forschung heute noch Sinn?

MH: Man kann das eine nicht ohne das andere denken und daher habe ich das entsprechende Kapitel in meinem Buch „Forschung mit fließenden Übergängen“ genannt.

AI: Neue, vor allem mächtige Technologien, verlangen immer auch eine Diskussion über das Machbare und den ethisch vertretbaren Einsatz. Wie können KI-Systeme, autonome Maschinen und Gentechnologie künftig für eine zukunftsorientierte, bessere Gesellschaft sorgen?

MH: Einerseits brauchen wir eine entsprechende Bildung – etwa auch eine digitale Bildung, die von gewissen ITKenntnissen und einem geschulten Umgang mit digitalen Infrastrukturen und Medien, über entsprechendes Wissen betreffend zum Beispiel Fake News, Filterblasen, Verzerrungseffekten bis hin zu einem Verständnis darüber, welche Daten man im Internet hinterlässt, was damit geschieht und welche Konsequenzen das hat – Stichwort digitale Souveränität reicht. Und es braucht eine begleitende ethische Diskussion, um höchstmögliche Privatsphäre und Datenschutz sicherzustellen und den Missbrauch von Daten zu verhindern. Bioethik, digitale Ethik und auch digitale Bildung sollen Wegbegleiter eines Fortschritts zum Wohle der Menschheit sein.

AI: Was ist erforderlich, um eine innovative, nachhaltige Mitmach-Gesellschaft zu ermöglichen?

MH: Sich den biologischen Grundlagen des Menschen bewusst zu sein, die Lösungsbegabung zu fördern, Verzerrungsneigungen entgegen zu treten und sich klar zu machen, dass auch der kleinste Beitrag zählt.

Buchtipp

„Die Lösungsbegabung. Gene sind nur unser Werkzeug. Die Nuss knacken wir selbst!“ (Ecowin, 240 Seiten, 24 Euro) ist Markus Hengstschlägers jüngstes Buch. Gerade in Zeiten der Virus-Pandemie und des Klimawandels ist Innovationskraft gefragt, die in jedem steckt. Das Buch versucht zu zeigen, wie die in uns alle innewohnte Lösungsbegabung und das besondere Talent durch Bildung, Talentmanagement, und Co. geweckt werden können. Das Ziel: eine Mitmachgesellschaft, in der sich alle engagieren.


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